Goetheanum | Die seelisch-geistige Entwicklung und ihre Bedeutung im Alter
Auf einen Blick
- Veröffentlicht:13 November 2025
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- Arbeitsort:Boden
Die seelisch-geistige Entwicklung und ihre Bedeutung im Alter
Die Care-Arbeitsgruppe ‹Alterskultur und Altersmedizin› arbeitet seit Herbst 2024 und veröffentlicht ihre Arbeitsfrüchte auf dem Fachportal Anthromedics. Fragestellungen und Herausforderungen liegen beispielsweise im Erschließen von Zusammenhängen zwischen Kindheit und Alter.
Was bedeutet das Alter in unserer Gesellschaft? In traditionellen Gesellschaften hatte es ein hohes Ansehen: Der weise Rat der Alten war gefragt und achtungsgebietend. Davon sind wir heute häufig weit entfernt. Zuweilen kann es wie ein Lichtblick erlebt werden, wenn ein alter Mensch eine Ausstrahlung hat, die Bescheidenheit oder gar Ehrfurcht aufkommen lässt. Im Lebensgefühl unserer Zeit sind solche Menschen nicht der Normalfall, und dieses Phänomen lässt sich auf Basis des anthroposophischen Verständnisses gut beleuchten.
Wir leben vor dem Hintergrund der Gegenwartsmeinungen implizit in der möglicherweise irrtümlichen Annahme, dass der Mensch fertig entwickelt und seine Evolution biologisch abgeschlossen ist. Allenfalls kann durch artifizielle Prothetik eine bestimmte Körperfunktion optimiert oder ersetzt werden, aber Evolution oder Entwicklung im Alter? Worin sollte die bestehen? Doch um in der Altersmedizin Ideale entwickeln zu können, braucht es die Vorstellung einer sich fortsetzenden Evolution.
Ausschöpfen des Ich-Potenzials
Nach den Hinweisen von Rudolf Steiner ist sie nicht abgeschlossen: Während in der menschlichen Evolution über lange Zeiträume hinweg die physische mit der seelisch-geistigen Entwicklung zusammenhing und bis ins höhere Alter parallel stattfand, nimmt diese seelisch-geistige Entwicklungsfähigkeit in jüngeren Zeiträumen immer mehr ab. Das bedeutet, dass die seelisch-geistigen Entwicklungsprozesse von den körperlichen unabhängig werden und ‹natürlicherweise› immer früher enden.1
So findet die Evolution des heutigen Menschen im biografischen Verlauf hauptsächlich im Innerseelischen statt. Er hat um sein 28. Lebensjahr herum die Möglichkeit, sich nun durch individuelle Initiative ins seelisch-geistige Leben hineinzuentwickeln – oder er belässt es mehr oder weniger bei dem, was sich an innerer Reifung bis zum 28. Lebensjahr erreichen ließ.
Aus anthroposophischer Sicht ziehen sich gewisse Gestaltungs- und Unterstützungskräfte, die bis dahin geholfen haben, zurück. Daher kann eine weitere Ich-Entwicklung ins höhere Lebensalter hinein verhalten ablaufen: Das Ich-Potenzial wird nicht ausgeschöpft oder es wird die Chance auf Selbsterziehung verschenkt, wodurch Menschen mit zum Beispiel 60 Jahren innerlich wie Ende 20 wirken. Heute müsste also ein Mensch ab dem 28. Lebensjahr von selbst seine inneren, seelischen Impulse spirituell aufnehmen und zum Ausdruck bringen. Für solche gesellschaftlichen Phänomene einen Blick zu entwickeln, kann ein wertvolles Instrument für die praktische Arbeit werden.
In anthroposophischer Anschauung geht die Evolution nun dahin, dass sich diese innerseelische Entwicklungsfähigkeit bis zum 28. Lebensjahr über die nächsten Jahrhunderte langsam weiter vorverlagert. Das bedeutet, dass wir heute zuweilen schon diesen ›Entwicklungsendpunkt› im 27. Lebensjahr beobachten können.1
Folgen nicht ergriffener Entwicklung
Was bedeutet das für unser Verständnis in der Alterskultur und -medizin? Wir werden Menschen begegnen, die auf ihrem Lebensweg nach dem 28. oder gar schon nach dem 27. Lebensjahr nicht das tun konnten, was vielleicht in ihnen gelegen hätte zu entwickeln. Das können ‹vergessene› Ideale, Werte oder Lebensmotive sein. Dann können aus solchen Lebensläufen Menschen erwachsen, die im späteren Alter die Ausstrahlung von Reife und Weisheit vermissen lassen. Das macht sie in einem ersten, flüchtigen Begegnungsmoment wie uninteressant für die Jüngeren und kann in der Folge für die Umgebung ein Ansatzpunkt werden, in ein liebloses Verhalten zu verfallen. Die allgemeine Einstellung in der mitteleuropäischen Gesellschaft gegenüber dem Alter ist leider von diesen Umständen affiziert.
Altersmedizin bedeutet aber, diese ‹verdunkelten› Bereiche einer Biografie verstehen zu lernen und hinter der Hilfsbedürftigkeit den Menschen mitfühlend zu ahnen, der vielleicht schwierige Lebensbedingungen hatte und seine selbst zu ergreifende Initiative – möglicherweise auf dem Boden katastrophaler zeitgeschichtlicher Bedingungen und transgenerationaler Traumata – nicht finden konnte. Wer diese Sichtweise einnimmt, bildet sich hieraus einen Ansatz für die eigene Hilfsbereitschaft.
Vor allem kann sich die Haltung und Intention einstellen, bei jedem bedürftigen alten Menschen eine gewisse innere Entwicklung, wie es individuell möglich ist, anzuregen oder zu befördern. Das sollte auch ein Grund sein für den rehabilitativen Ansatz im Alter, der im Allgemeinen eher auf die funktionelle Selbständigkeit abhebt, die die Pflegebedürftigkeit noch etwas hinauszögert.
Glückliche Kindheit ermöglicht tendenziell ein gesundes Alter
Mit diesen Gedanken ist die menschliche Biografie angesprochen. Lebensumstände der Kindheit und Jugend spiegeln sich im Alter und finden sich in seelischen oder auch leiblichen Bedingungen wieder. Ein bekanntes Beispiel aus der Forschung ist etwa die langjährig durchgeführte ‹Nonnenstudie›2: Ihre Ergebnisse zeigten, dass eine glückliche Kindheit ein starker prognostischer Wert für ein gesundes Alter ist.
Ein solcher Zusammenhang wirft im Umkehrschluss erhebliche Fragen auf, die ein Schlaglicht auf Gesundheit im Allgemeinen und die Gesundheit in traumatisierten Gesellschaften werfen. Hinweise von Rudolf Steiner auf solche Zusammenhänge sind schon über 100 Jahre bekannt,3 finden jedoch in die konventionelle Medizin kaum Eingang. Es braucht für die Evidenz solcher Zusammenhänge auch in der Forschung einen langen Atem und entsprechende Forschungsdesigns.4 Davon gibt es noch zu wenig, aber die Hinweise verdichten sich.
Solche Gesichtspunkte in die Alterskultur und Medizin einzuführen ist ein Gebot der Zeit, weil sich erst auf einem solchen Erkenntnishintergrund auch die gesellschaftlichen Prozesse ändern lassen. Kleinkinderziehung und Schulbildung sind Gesundheitsfaktoren für die gesamte Lebenszeit. Altersbetreuung hängt also von dem ab, was etwa 70 bis 80 Jahre zuvor in der Erziehung geschehen ist. Bildlich gesprochen kann Altersbetreuung bedeuten, das Kind nach vielen Jahrzehnten aus dem Brunnen zu holen, in den es damals gefallen ist.
Alter und Krankheit begrifflich trennen
Das Bild vom defizitären Alter ist ein vordergründiges und nicht selten der Anlass für Lieblosigkeit im menschlichen Umgang. So ist Lieblosigkeit in der Alterspflege heute ein Thema, wenn beispielsweise Gewaltpräventionsprogramme eingeführt werden müssen, um in den stationären Versorgungseinrichtungen die Pflegequalität zu erhalten. Wenn wir begreifen können, dass das menschliche Leben ein Weg der immerwährenden Entwicklung ist, dann haben wir Gesichtspunkte für eine entsprechend wirksame Unterstützung in den einzelnen Lebensabschnitten.
Natürlich gibt es auch gesunde alte Menschen, die mit ihren Ressourcen so kräftig sind, dass sie bis ins hohe Alter selbständig bleiben. Diese Menschen stellen eine besondere gesellschaftliche Ressource dar. Das gesellschaftliche Problem sind diejenigen, die zu früh Hilfe brauchen, die durch chronische Erkrankungen ihre Selbständigkeit früher verlieren und die durch Sucht oder Krankheit und Vergesslichkeit von medizinischer Versorgung und Pflege abhängig werden.
Es ist daher sinnvoll, Alter und Krankheit bis ins Praktische hinein auseinanderzuhalten und begrifflich zu trennen. Zwar ist es richtig, dass im Alter Krankheit eher auftreten kann, dennoch sind Alter und Krankheit grundsätzlich etwas Verschiedenes.
Fußnoten
[1] Rudolf Steiner: GA 177, 30. September 1917, 1999
[2] Deborah D. Danner, David A. Snowdon, Wallace V. Friesen: Positive Emotions in Early Life and Longevity: Findings from the Nun Study, in: Journal of Personality and Social Psychology, 2001; 80(5): 804–813
[3] Rudolf Steiner: GA 306, 15. April 1923, 1989, Seite 28
[4] Elaine Holt: Acknowledging Creative Thinking Skills: Educating for a Creative Future, in: SSRN Electronic Journal, 2024